Das Stadtarchiv Kempten und seine Bestände

IX. Die Sammlung Weitnauer

Neben Nachlass und Sammlung des Kemptener Oberbürgermeisters Dr. Otto Merkt (1877-1951, Amtszeit 1919-1942) bildet die weitläufige Sammlung des Bezirksheimatpflegers von Schwaben, Dr. Dr. Alfred Weitnauer (1905-1974, Amtszeit 1935-1970), eine wesentliche dokumentarische Stütze des Stadtarchivs Kempten, dem Neugier, Sammeleifer und Arbeitswut der beiden Männer besonders zugute kamen. In ihrem bedingungslosen Einsatz für die Heimatforschung bildeten der ältere Merkt und sein „Ziehsohn“ Weitnauer ein kongeniales Team, was nicht heißt, dass die sehr unterschiedlichen Charaktere und gleichermaßen ausgeprägten „Allgäuer Dickschädel“ dieser verdienten Persönlichkeiten nicht auch aufeinander prallten. Tatsächlich hatte Weitnauer seine berufliche Stellung nicht zuletzt Merkt zu verdanken. Nach dem Studium der Geschichte und Volkswirtschaft in München, die er beide mit der Promotion abschloss, wurde der junge Weitnauer Mitarbeiter in der Rockefeller-Stiftung und sammelte berufliche Erfahrungen in Leipzig, Würzburg und Nürnberg. Schließlich war er nahe daran, fest in der Wirtschaftsredaktion des „Berliner Lokalanzeigers“ anzuheuern, als ihm Merkt energisch in die Parade fuhr: „Soweit kommt‘s noch, dass Du nach Berlin gehst! Nichts da! Du bleibst hier und wirst Heimatpfleger von Schwaben!“ Und so geschah es. Merkts großes Verdienst ist es, die Heimatpflege nicht nur als Vorreiter in Schwaben, sondern letztlich in ganz Deutschland hauptamtlich institutionalisiert zu haben.  Weitnauer und seine Allgäuer Heimat waren eins und durch eine Generation hindurch nahezu identisch (W. Haberl).

Was Weitnauer in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges zur Rettung wertvoller Kulturgüter geleistet und wie er es angestellt hat, gehört zu den größten Schelmenstücken der deutschen Kulturgeschichte. Als einziger amtlicher Heimatpfleger war er Ansprechpartner für Museumsdirektoren aus ganz Deutschland, die ihre Kunstwerke vor Luftangriffen retten wollten. Ende 1944 waren über hundert Bergungsdepots im Allgäu von Weitnauer organisiert, die Kunstwerke und ihre Eigentümer registriert. Der vorsichtige Weitnauer aber hatte zwei Listen erstellt: Eine mit fingierten Ortsnamen wurde ans Landesamt für Denkmalpflege nach München geschickt, die Liste mit den tatsächlichen Namen aber kannten nur Weitnauer und Dr. Heinz Merten, Kustos des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, dem zusammen mit Weitnauer das Verdienst zukommt, Kunstwerke in einem Gesamtwert von heute unschätzbaren Millionen Euro gerettet zu haben. Als die Besatzungsmächte die Auslieferung der Listen forderten, weigerte sich Weitnauer, musste aber erfahren, dass das Landesamt seine Liste bereits herausgegeben hatte. Die Fahndung blieb freilich ergebnislos, denn auch die Münchner Behörde wußte ja nicht, dass lediglich fingierte Listen übergeben worden waren. Als 1945 die Amerikaner Kempten besetzt hatten, amtierten der 1942 von den Nazis seines Amtes enthobene Merkt und nach ihm kurzzeitig auch der „Rockefeller-Mann“ Weitnauer mit seinen hervorragenden Englisch-Kenntnissen als ehrenamtliche Bürgermeister.
Weitnauers Hinterlassenschaft für das Stadtarchiv Kempten kann hier nur kurz umrissen werden. Hierzu gehören 17 maschinenschriftliche Archivverzeichnisse Kemptener und Allgäuer Geschichtsquellen, die wissenschaftliches Arbeiten vor Ort etwa auch in Wien erleichtern und viele historische Bezüge erkennen lassen. Nicht zu vergessen die Herausgabe von fast 40 Quellen zur Kemptener, Allgäuer und schwäbischen Geschichte, die berühmten und begehrten grünen „Allgäuer Heimatbücher“, von denen Weitnauer etliche selbst geschrieben hat. Nicht zuletzt die vierbändige „Allgäuer Chronik“ als krönender Abschluß eines dem Allgäu gehörenden Lebens (W. Haberl).

Dies sind natürlich nur einige Meilensteine aus dem weitläufigen schriftstellerischen Schaffen des Heimatpflegers.  Neben dem Schrifttum aber sind vor allem die fast unzähligen Fotos, die Weitnauer zumeist selbst geschossen und zusammengetragen hat, aufgrund ihrer optischen Aussagekraft zu allen möglichen Themen der Geschichte und Heimatpflege von größtem Wert für das Stadtarchiv. So wie Merkt auf seinen berühmten Burgenfahrten unterwegs war, die sich in vielen Burgenakten für das Stadtarchiv niederschlugen, reiste Weitnauer mit dem Fotoapparat – und einer Sekretärin – durch die Lande und es gab wohl kein Objekt, das vor ihm sicher war. Das Ergebnis ist unglaublich: Innerhalb der riesigen Fotosammlung des Stadtarchivs und innerhalb der gesamten Sammlung Weitnauer bildet wiederum die Fotosammlung Weitnauer einen zentralen Bestand: Es handelt sich um Bilder zur Geschichte Kemptens, des Allgäus und Schwabens, die in Regalschränken in 246 roten Boxen aufbewahrt werden, deren Inhalt noch nicht abschließend inventarisiert werden konnte. Es geht um folgende Themenbereiche: Stadtansichten/alte Ortsansichten (Füssen, Isny, Kaufbeuren, Kempten, Lindau, Memmingen, Lauingen, Mindelheim, Nördlingen, Günzburg, Burgau), Kleinkunst, Burgen,  Bauernhäuser, Fachwerkhäuser, Volkskunst und Volkskunde, Plastik, Altäre, Votivbilder, Kapellen, Tafelbilder, Trachten, Epitaphe,  Landschaften/
Naturdenkmale, Bausünden, Zäune/Gitter, Bildstöcke/Sühnekreuze, Öfen, Raumkunst, Keramik, Türen/Fenster, Wirtshausschilder, Zunft/Handwerk,  Möbel, Model, Kitsch, Flugblätter/Moritaten, Sippenkunde/Familienbilder, Justiz, Wirtschaftsgeschichte, Luftaufnahmen, Urkunden. In wenigen Jahrzehnten entstanden rund 35000 Fotos!

Weitnauer erlag am Pfingstmontag 1974 einer unheilbaren Krankheit. 1973 hatte ihn seine Heimatstadt Kempten zum Ehrenbürger ernannt, 1995 beschloss der Stadtrat die Benennung einer Straße im Neubaugebiet Jakobgelände nach Weitnauer und 1996 ehrte die Stadt seine Persönlichkeit mit einer Gedenktafel am Weidlehaus, in dem Weitnauer als Heimatpfleger residiert hatte.

Von Dr. Franz-Rasso Böck, Stadtarchivar

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