Das Stadtarchiv Kempten und seine Bestände

X. Schätze aus sechs Jahrhunderten

Am Samstag, 25. September 2004, fand bundesweit der zweite „Tag der Archive” statt.
Die Archive in Deutschland wollten mit dieser Aktion zu einer Entdeckungsreise in ihre Häuser einladen und einem breiteren Publikum etwas über die Arbeit der Archive vermitteln, um so auf ihre Funktion als „Gedächtnis der Gesellschaft” und die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten für jedermann hinzuweisen. Die Öffentlichkeit sollte auf das einzigartige Kulturgut aufmerksam gemacht werden, das von mittelalterlichen Urkunden bis zu Datenbanken unserer Tage reicht und als Erbe in den Archiven gesichert wird – für die Erforschung der Vergangenheit und das Verständnis unserer Gegenwart. Auch das Stadtarchiv Kempten beteiligte sich mit einem „Tag der offenen Tür” und der Ausstellung „Schätze aus 6. Jahrhunderten” am „Tag der Archive”.

1.
Zu den wertvollsten Beständen des 15. Jahrhunderts zählt das 1452 beginnende Kramerzunftbuch mit aufschlussreichen Eintragungen zu Personen, Berufen,  Vorschriften und Bestimmungen. Aus ihnen wird deutlich, dass die Zünfte nicht nur der wirtschaftliche  Zusammenschluss eines Berufsstandes waren, sondern auch konkret in das Alltagsleben ihrer Mitglieder eingriffen. In der Zunftverfassung der Reichsstadt Kempten 1379 bis 1551 spielten die Zünfte darüber hinaus eine führende Rolle in der Gestaltung der städtischen Politik.

2.
Eine wesentliche Bedeutung kommt den Urkunden der Reichsstadt Kempten zu, die in früheren Zeiten vor allem von rechtserheblichem Wert waren und heute eine Hauptgrundlage für die Geschichtsforschung bilden. Die Beispiele aus dem 15. bis 19. Jahrhundert zeigen, dass neben den Kaiser- und Königsurkunden auch die Vielzahl von Urkunden alltäglicher Rechtsgeschäfte ihre Aussagekraft für die Stadtgeschichte haben: Verkaufsurkunde vom 6. Mai 1410: „Albrecht Häll verkauft an Hans Häll, zu der Aich gesessen, mit Bewilligung des Lehnsherrn Friedrich von Laubenberg, Abt des Gotteshauses zu Kempten, um 34 Pfund Pfennig eine jährliche ewige Gült von 3 Malter Haber und 5 Schilling Pfennig aus dem Meierhof zu Krugzell, den Hans Haefflin bauet.” – Kaiserliches Privileg vom 23. Oktober 1630: „Kaiser Ferdinand II. verleiht dem Tobias Vinzenz und Gebrüdern König, Handelsherren und Bürgern in Kempten, das Recht zur alleinigen Führung eines Warenzeichens für ihre Leinwandartikel”. – Verkaufsurkunde vom 18. November 1801: „Michael Ade, Bäcker zu Kempten, verkauft an Johannes Rist, Weber daselbst, um 16 Gulden den bei seiner Hofstätte und Garten an der Brennergasse liegenden Platz, worauf vormals ein Siedhäuslein gestanden. Der Brief ist gesiegelt von Bürgermeister Leonhard Fehr.”

3.
Als Beispiel für die Ratsprotokolle wurde unter anderem eine Serie der Jahre 1614 bis 1618 ausgestellt. In den Protokollen wurden nicht nur die in den Versammlungen behandelten Themen und Beschlüsse festgehalten, sondern auch Verordnungen, Instruktionen und Mitteilungen aufgenommen. Die Verwahrung oblag dem protokollführenden Stadt- und Ratsschreiber, der oft auch die Kanzlei und das Archiv verwaltete.

4.

Wahre Schmuckstücke des Stadtarchivs sind zwei Chroniken, deren Wert für die Erforschung stadtgeschichtlicher Zusammenhänge bemerkenswert ist: Die bis 1595 über Kempten berichtende „Schwarz’sche Chronik” wird dem Anfang des 17. Jahrhunderts an der St.-Mang-Kirche tätigen Prediger Christoph Schwarz zugeschrieben. Sie enthält bedeutende Beobachtungen für die gesamte Stadtentwicklung, führt Geschehnisse aus der Kemptener Geschichte an und verzeichnet die Namen zahlreicher Bürger und Amtsträger. In der Sammelhandschrift sind an die Chronik selbst weitere Texte wie Urkundenkopien und Verzeichnisse angebunden.  Spätere Geschichtsschreiber wie z.B. Johann Baptist Haggenmüller (1792-1862)  werteten die Chronik für ihre Werke teilweise aus. Die „Chronik von der Heil. Römischen freyen Reichs Stadt Kempten vom Jahr 1600 bis 1795. Zusammengetragen von Peter Gebhart, des Gerichts und Handelsmann, Anno 1799, den 31. December.”  Die „Gebhart’sche Chronik” enthält über die Berichterstattung hinaus Verzeichnisse der Bürgermeister, Stadtmänner und Kirchenpfleger der Stadt, aber auch eine Liste der Äbte des Stifts. Eine Besonderheit sind die vielen eingeklebten Dokumente, Schriftstücke, Pläne, Drucke und Abbildungen – sogar zwei Kokarden aus Stoff, wie sie während der Französischen Revolution am Hut getragen wurden, finden sich in dem Band, wobei das Exemplar einer helvetischen Kokarde jüngsten Forschungen zufolge das einzig erhalten gebliebene Stück dieser Art darstellen könnte. Der unvergessene Bezirksheimatpfleger Dr. Dr. Alfred Weitnauer hat die „Gebhart’sche Chronik” einmal als „zeitgeschichtliches Museum” vor allem der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bezeichnet.

5.
Mit dem Aufgabenzuwachs der öffentlichen Verwaltungen und Kanzleien setzt in den Städten ab dem 16. Jahrhundert allmählich das Aktenschrifttum ein, ohne dass wir bereits wie dann im 19. und 20. Jahrhundert von einem ausgesprochenen Aktenzeitalter mit der Produktion regelrechter Massenakten sprechen können.  Im Stadtarchiv Kempten dokumentiert ein Bestand von etwa 100.000 Akten nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ breit angelegt das Leben der Stadt Kempten in allen Bereichen.  Für die Ausstellung wurden Akten aus dem Bereich der Gewerbekonzessionen und Heiratsgenehmigungen des 19. Jahrhunderts ausgewählt, die eine wichtige personen-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Quelle darstellen. So z.B. der Akt für Johann Georg Kluftinger betreffs „Zulassung zur Meisterprüfung und Ausübung einer realen Metzgergerechtsame, Ansässigmachung und Verehelichung” 1858 oder das Gesuch von Johann Leonhard Kluftinger um Verleihung einer Bierbrauerkonzession.

6.
Eine bedeutende personengeschichtliche Quelle sind als Vorläufer der Register der Einwohnermeldeämter und Standesämter die von etwa 1780 bis 1925 reichenden Familienbögen, die oft viele Aufschlüsse zu Personen, Familienstand, Beruf, Wohnung, Zuzug, Wegzug und auch Anmerkungen oder Kommentare zu besonderen Vorkommnissen und Besonderheiten geben.  Als Beispiele wurden Bögen der Familie Haggenmüller mit ihrem prominentesten Vertreter, dem Geschichtsschreiber Johann Baptist Haggenmüller, gewählt. Er veröffentlichte 1840 und 1847 eine zweibändige Geschichte Kemptens und saß als Kemptener Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung 1848.  Gerade sein bewegtes Leben ist auch im Familienbogen mit einigen Erläuterungen ausführlich erfasst worden.  Ab den 1920-er Jahren wurden die Familienbögen durch handschriftliche Karteikarten ersetzt; diese Kartei ist im Original nicht erhalten, aber ihre Verfilmung auf Mikrofiches ermöglicht weiterhin den Zugriff auf wichtige Informationen. Ab 1971 erfasste man in Kempten die Meldeangaben elektronisch, aber diese Daten sind heute nicht mehr digital lesbar und ebenfalls nur noch auf Mikrofiche verfilmt verfügbar. Während die alte Kartei auf Zelluloidfolien verfilmt wurde, besteht die neue Kartei aus Polyesterfolien. Die Haltbarkeit beider Materialien ist begrenzt, so dass eine Übertragung auf ein anderes Speichermedium dringend notwendig wird. Hier sind die Archive vor große Herausforderungen gestellt, denn die neuen Speichermedien bringen Probleme für eine dauerhafte Archivierung mit sich, da letztlich unbekannt ist, wie lange die Materialien tatsächlich haltbar sind. So müssen sich die Archive notfalls darauf einstellen, verschiedene Generationen von Datenverarbeitungsgeräten bereit zu halten.
Das 21. Jahrhundert droht ein schwieriges zu werden, was die Bewahrung seiner Daten angeht, soll das Resultat kein „dunkles Zeitalter” sein.

7.
Einen geschlossenen Bestand, der ebenfalls mit Beispielen in die Ausstellung aufgenommen wurde, stellt die lückenlose Überlieferung der Kemptener Zeitungen dar, angefangen bei den „Neuesten Weltbegebenheiten” 1784 über die Kemptner Zeitung des 19. Jahrhunderts bis zur Allgäuer Zeitung Kempten der Gegenwart.

8.

Mit einigen Objekten berücksichtigt wurden auch die riesigen Bestände des optischen Archivmaterials, angefangen bei den Fotografien. Das Stadtarchiv besitzt umfangreiche Abteilungen historischer Fotografien mit zehntausenden von Einzelbildern. Der überwiegende Teil der Bilder ist als Papierabzug thematisch geordnet erhalten, aber es gibt auch einen Bestand mit Negativen auf Glasplatten. Die frühesten Fotos im Archiv datieren aus der Zeit um 1870. Alle modernen Formen von Fotomaterialien werden ebenfalls archiviert, zunehmend auch digitale Bilddateien.

9.
Nicht eigens veranschaulicht werden konnte im Rahmen der Ausstellung der große Bestand an historischen Grafiken, Plakaten, Karten, Stichen und Plänen, die einen thematischen Bezug zu Kempten und dem Allgäu haben und vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage reichen.

10.
Mit einer Kostbarkeit wurde die Ausstellung „Schätze aus 6 Jahrhunderten” abgerundet:  Es handelt sich um ein großartig aufgemachtes und ausgestattetes Fotoalbum zum Dienstjubiläum von Bürgermeister Adolf Horchler, der von 1881 bis 1919 mit der bei weitem längsten Amtszeit als  Stadtoberhaupt die Geschicke Kemptens leitete.  In seiner Amtszeit wurden die Grundlagen für eine moderne Infrastruktur geschaffen, zahlreiche Bauprojekte, die das Bild der Stadt bis heute prägen, verwirklicht und eine aktive Kulturpolitik betrieben. Zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum 1906 verehrte ihm die Stadt ein eigens angefertigtes Fotoalbum mit Bildern aus Kempten – eine Geste der Versöhnung an den oft angefeindeten Bürgermeister, der aus „Kempten-Altstadt und Kempten-Neustadt endlich einmal eine einzige Stadt machen”  wollte und dieses politische Lebensziel auch erreicht hat.

Von Dr. Franz-Rasso Böck, Stadtarchivar

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