Welche Bedeutung hat die Gestaltungssatzung der Stadt Kempten mit ihren besonderen Anforderungen an neue oder geänderte bauliche Anlagen im historischen Stadtgebiet?
1. Anlass
In den historischen Bereichen der Stadt Kempten entstehen immer wieder bauliche Anlagen, die beim Bürger umstritten sind, da sie sich nicht oder nicht ausreichend harmonisch in die Umgebung einfügen bzw. in ihrer Gestaltung den Maßstab der sie umgebenden meist kleinteiligen Parzellen- und Gebäudestruktur nicht befriedigend berücksichtigen. Die Bürger empfinden diese Veränderungen des Gesamteindrucks als Störung. Sie erleben das Neue als Missklang im gewachsenen Stadtbild, wie sie es von früher her noch in Erinnerung haben. Zu den baulichen Anlagen, die errichtet oder geändert werden, gehört die gesamte Baustruktur der Stadt mit ihren Gebäuden, Plätzen, Brunnen, Denkmälern…
2. Die Gestaltungssatzung der Stadt Kempten
Zweck der Gestaltungssatzung – genauer gesagt der „Satzung über besondere Anforderungen an bauliche Anlagen … in der Stadt Kempten” – ist, „bauliche Änderungen und neue bauliche Anlagen hinsichtlich der Gliederung der Baukörper, des Materials und der Farbe so der Umgebung anzupassen, dass der Eindruck des Straßenbildes, wie es historisch gewachsen ist, erhalten bleibt.” (4) Die Gestaltungssatzung vom 22.12.1976 wurde mit Stadtratsbeschluss vom 11.11.1976, zuletzt geändert im März 2001, verabschiedet. Sie gilt für alle historischen Gebiete Kemptens, „die innerhalb des geschlossenen Bereichs von Reichs- und Stiftsstadt bzw. im direkten Einflussbereich der für das historische Erscheinungsbild besonders wichtigen Raum- und Baustruktur liegen”. (1) „Für die Stadtgestaltung entscheidend ist die Homogenität im Erscheinungsbild zusammenhängender Bebauungen. Der harmonische und zugleich lebendige Gesamteindruck ergibt sich aus vielfältigen formalen und maßstäblichen Bezugnahmen von Baukörpern oder Bauteilen zueinander. Homogenität bedeutet dabei nicht unbedingt wörtliche Übereinstimmung in Detail. Selbst im Falle eines zu integrierenden Neubaus kann dies in durchaus zeitgemäßer Formensprache geschehen, sofern sie eine neue Ausdeutung der rahmensetzenden strukturellen Gesetzmäßigkeiten des Ensembles darstellt.” (2)
Im Beschluss des Stadtrats taucht der zunächst einmal schwer verständliche Begriff „strukturelle Gesetzmäßigkeiten des Ensembles” auf. Die Bedeutung dieses Begriffes wird in „Stadtbild und Stadtlandschaft” (3), einer Dokumentation zur Stadt Kempten, die Ende der 70er Jahre erschienen ist, wie folgt beschrieben: „Im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens bereitet die nachvollziehbare Beurteilung von Bauvorhaben, die sich in den historischen Bestand einfügen sollen, bisher einige Schwierigkeiten. Im Interesse aller Beteiligten liegt deshalb eine Vorwegunterrichtung über alle wichtigen Beurteilungsgesichtspunkte, an der sich Bauherr und Architekt orientieren können. Grundlage für die Beurteilung von Neubauten sollen die städtebaulich, historisch oder künstlerisch wertvollen alten Gebäude sein. Anhand des vorliegenden Materials sollen, sozusagen rückwärts abgesichert, die für Kempten charakteristischen Architekturelemente definiert werden, woraus, weitgehend objektivierbar, die Merkmale abgeleitet werden, die der neuen Bebauung zugrundezulegen … sind.” (3) Mit dieser Vorgehensweise ist das „Handwerkszeug” vorgegeben, wie eine fachlich begründete und konfliktfreiere behördlich gesteuerte Genehmigungsphase für bauliche Änderungen in sensiblen Altstadtbereichen ablaufen kann.
3. Kritische Betrachtung der Gestaltungssatzung
Ist es überhaupt noch sinnvoll, eine Gestaltungssatzung gelten zu lassen wenn die Stadt als Entscheidungsträger für bauliche Änderungen und neue bauliche Anlagen selbst damit Probleme hat? Wenn eine Gestaltungssatzung so verstanden wird, dass sie Handhabe dafür ist, nur den historischen Bestand wieder zu beleben, was „zu einem mehr museal bestimmten Handeln verführt und die Gefahr der Sterilität in sich birgt”? Die Folge einer solche Auslegung wäre, dass es „zu einer unvorteilhaften Beschränkung in der Entwicklung einer lebendigen Stadtstruktur kommen kann” (3). Ist es angesichts der Tatsache, dass eine einheitliche Gestaltung, wie sie für die Stadtwerdung Kemptens im Mittelalter typisch war, heute nicht mehr erreichbar ist, überhaupt noch sinnvoll, einschränkende Vorgaben durch eine Gestaltungssatzung aufrecht zu erhalten? Sind Regeln, mit denen das harmonische Stadtbild abgesichert werden soll, überhaupt noch zeitgemäß, wenn die Bauherrn heutzutage die Achtung vor dem, was andere in ihrer Umgebung taten, nicht mehr wahrnehmen, weil sie nicht bereit sind, sich zuerst mit dem Bestehenden und der geschichtlichen Vergangenheit des Ortes auseinanderzusetzen, um dann erst einen Planungsanfang zu wagen? Und wenn diese Investoren bei ihrem Erstkontakt mit der Bauverwaltung von der Prämisse ausgehen, dass sie nur dann in der Stadt bauen werden, wenn sie die gleiche Baufreiheit erhalten, wie bei einem Bau „vor den Toren der Stadt auf der grünen Wiese”, nämlich ohne einengende Auflagen? Ist nicht aufgrund unseres Zeitgeistes unter diesen Umständen eine Entbürokratisierung und Entrümpelung von einengenden Gesetzen, Verordnungen und Satzungen geboten, um die Handlungsspielräume wieder zu erweitern? Könnten dann nicht einzelfallbezogene Entscheidungen zur Belebung der Altstadt in besserer Weise, „quasi pragmatisch geprägt”, getrofffen und umgesetzt werden, wenn die hindernden „fundamentalistischen” Vorgaben der Gestaltungssatzung beseite geschoben sind?
4. Begründung für die Notwendigkeit der Gestaltungssatzung
Aus den Reaktionen von Bürgern der Stadt Kempten und der örtlichen Presse zu Änderungen im Stadtbild Kemptens, die sich in letzter Zeit häuften, ist ablesbar, dass die öffentliche Meinung einen Abbau der einschränkenden Vorgaben für die Stadtentwicklung und -gestaltung nicht wünscht. Eine Freigabe der Handlungsspielräume mit dem Ziel, eine Fülle verschiedener Bauformen und technologischer Gestaltungsmöglichkeiten zuzulassen, die nicht mehr durch einengende Randbedingungen beinflusst sind, sondern nur noch individuell gestaltet werden, wird abgelehnt. Die Bürger wollen ihre Stadtheimat erhalten wissen. Sie wollen sich dort wohlfühlen, wo sie leben. Sie wollen gerne durch ihre Straßen und über ihre Plätze gehen und sich dort aufhalten. Instinktiv erfahren und erleben sie dabei positive oder negative Auswirkungen, die durch bauliche Veränderungen ausgelöst werden und die Atmosphäre beeinflussen. Die überwiegende Mehrheit der Bürger ist sich einig, dass „ihre Stadt Kempten in ihren historischen Vierteln ein einmaliges, lebendiges Gebilde ist, das sich von anderen Städten unterscheidet und das deshalb bei ihrer Weiterentwicklung die Unverwechselbarkeit der Erscheinungsstruktur bewahren muss”. (3) Würden einschränkende Voraussetzungen, wie z. B. die Gestaltungssatzung abgebaut oder die Methode zur Analyse der Baustruktur oder andere fachliche Instrumente nicht mehr eingesetzt werden, liefe die Stadt Kempten Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren. Allerweltsformen bei der Gestaltung der Gebäude und eine kaum noch Grenzen setzende Ausdehnung der Baukörper in Höhe und Breite könnnten die Folge sein. Veränderungen dieser Art würden zu einer unerwünschten Nivellierung und Vereinheitlichung im Erscheinungsbild der Stadt, schlichtweg zu einem unharmonischen Durcheinander führen.
5. Folgerungen
Auf die derzeitige Unzufriedenheit vieler Bürger über bauliche Veränderungen im Stadtbild wurde vielfach so reagiert, dass das, was sich geändert hat, halt gewöhnungsbedürftig sei und dass man doch noch ein wenig abwarten möge. Reicht diese Einstellung aus, um die öffentliche Meinung gegenüber der Stadt wieder positiver zu stimmen? Ist es nicht besser, die Methoden zur Beurteilung von Bauvorhaben einer Prüfung zu unterziehen, um künftige Projekte unumstrittener in den vorhandenen Baubestand einfügen zu können und damit eine für alle unangenehme Wiederholung von Schwierigkeiten und das Aufkommen von Ärger zu vermeiden, zumindest aber weitgehend zu reduzieren?
Wie könnte das erfolgen?
Die in den 70er Jahren entwickelten hervorragenden Instrumente zur Stadtentwicklung und -gestaltung sind wieder stärker ins Bewusstsein der Verantwortlichen zu bringen und häufiger zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen, als dies möglicherweise zuletzt der Fall war. Dort, wo ein Gebäude in historischer Umgebung entstehen soll, muss es heißen, sich mit dem Vorhandenen intensiv auseinander zu setzen, „eine möglichst objektive Analyse aller Merkmale zu machen, die den Bestand charakterisieren, also den Zustand zunächst einmal aufzudecken und zu beschreiben” (3). Wenn das der Bauherr nicht macht – er dürfte für diese Aufgabe auch in der Regel überfordert sein -, muss die Stadt mit ihrem hochqualifizierten Personal unter Heranziehung der fachlichen Grundlagen u.a. aus den Bereichen der Stadtplanung, des Stadtarchivs und der Stadtarchäologie die Bauvorgaben formulieren und ggfs. in der Bauleitplanung, spätestens im Baugenehmigungsbescheid festlegen. Die Methode zur Analyse der Baustruktur ist rechtzeitig einzusetzen, um z.B. für Sanierungsgebiete Gestaltungsvorgaben „quasi auf Vorrat” zu entwickeln. Eine Vorgehensweise dieser Art kann aber nur dann erfolgversprechend sein, wenn die Verantwortlichen sich ständig aus- und fortbilden. Die Teilnahme an internen und externen Seminaren und Schulungen ist unabdingbar Voraussetzung nicht nur für hochqualifizierte und verantwortungsvoll handelnde Entscheidungsträger bei Behörden und freischaffenden Baufachleuten.
- Gespräche zwischen Verantwortlichen bei Behörden und Bauträgern, bei denen das Bewusstsein für die „im Persönlich-Menschlichen verankerte Achtung vor dem, was ein anderer tat” (3), bewusst gemacht werden muss, sind frühzeitig zu führen. Diese Gespräche können allerdings nur dann zu einem guten Ergebnis kommen, wenn die Verantwortlichen der Stadt selbst in ausreichender Weise einen inneren Bezug zu dem Ort mit seiner historischen Bedeutung und seinem Bestand haben, an dem die bauliche Veränderung geplant werden soll.
- Auf keinen Fall sollen Gestaltungsfragen wegen möglicher Differenzen zwischen Bauherrn und Stadt bis zum Schluss ausgespart oder gar bewusst offen gelassen werden. Sie sind bei den Planungsgesprächen frühzeitig anzusprechen und zu lösen. Geschieht das nicht, ist es sehr wahrscheinlich, dass nicht fachlich sondern politisch entschieden wird. Dabei werden oftmals Gestaltungsfragen der Sache wegen nachrangig bewertet, was zur Folge haben kann, dass die Stadt langfristig gesehen und wörtlich gemeint „an Ansehen verliert”.
- Im Chor der vielen sich zu Wort meldenden Bürger werden immer mehr die Stimmen der einheimischen Fachleute, insbesondere der Architekten und Baufachleute vermisst. Wünschenswert wäre ein erneutes Aufleben von Diskussionen mit fachlich fundierten Aussagen, die unpolemisch und uneigennützig geführt werden.
6. Ausblick
„Für den augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.” Was Werner von Siemens schon 1878 im Zeitalter der Industriellen Revolution sagte, gilt auch heute noch für viele Bereiche unseres Lebens, nicht nur für unternehmerisches Handeln in der freien Wirtschaft, sondern ebenso für Entwicklungen in der Stadt und auf dem Land. Entscheidungen sind stets nicht nur geprägt von technisch Machbarem und wirtschaftlich Rentablem, sondern ebenso von ethisch Verantwortbarem. Wirtschaftlich und politisch begründetes Handeln, dem sich alles andere unterordnet, kann Grenzen überschreiten, wenn dabei Randbedingungen nicht beachtet werden. Bei technischen Veränderungen muss der Mensch Maß nehmen an der umgebenden Natur (in der freien Landschaft) und an den benachbarten Häusern (im bebauten Umfeld). Neues, bisher nicht Dagewesenes darf sich nicht als Fremdkörper von dem Umgebenden abheben. Die Ehrfurcht vor den Werten, die sich um die Menschen herum befinden, darf im Alltag unseres Lebens nie untergehen.
7. Literatur
- (1) Satzung über besondere Anforderungen an bauliche Anlagen und Werbeanlagen sowie Schutz von Bäumen in der Stadt Kempten (Allgäu) vom 22.12.1976, zuletzt geändert im März 2001
- (2) Beschluss des Stadtrats zu (1.) mit Begründung … vom 11.11.1976
- Stadtbild und Stadtlandschaft
8. Planung Kempten (Allgäu)
Autoren:
Spengelin, F., Kistler, L., Rossow,W., Andresen, E., Daldrop-Weidmann,M.
Herausgeber: Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bonn,
Bayerisches Staatsministerium des Innern, München – Oberste Baubehörde
(4) Eine klarere Gestalt für die „Gestaltungs-Satzung”, Allgäuer Zeitung vom 15.03.2001
Von Dipl.-Ing. Dieter Schade